GALERIE PROFIL
2006

Das Jahr 2006 begann mit der ersten Einzelausstellung von Emmett Williams (* 1925 in Greenville, South Carolina/USA) in der EMERSON Gallery Berlin. In Anlehnung an den umfassenden Werksüberblick, der im Herbst 2005 in einer Retrospektive im polnischen Poznan (Posen) gezeigt wurde, bot die bei uns gezeigte Ausstellung „Lichtskulpturen – Light Sculptures“ eine Auswahl neuer und älterer Arbeiten dieses facettenreichen Künstlers. Der Ausstellungstitel bezog sich auf das Hauptwerk in der aktuellen Präsentation, eine Serie von „Recycling Arbeiten“, die so genannten Light Sculptures. In ihnen finden Williams‘ Illustrationsmaterialien für die 1986 erschienenen German Poems (Deutsche Gedichte, Rainer Verlag) eine neue Verwendung. In einer einzigartigen Collagetechnik erschafft der Künstler eine der für ihn so typischen, verspielten und höchst poetischen Welten.

In der dazugehörigen Edition XV traten Emmett Williams legendäre Fluxusmännchen in einer augenzwinkernder Hommage an Marcel Proust‘s „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ auf.

Im März folgte das INTERMEZZO VI. In der Ausstellung „e.V. – Vereine im Reuterkiez“ stellten Marc Volk (* 1967) und Christian Jennerich (* 1968) ihr gemeinsames Buch-Projekt vor. Neben einer Auswahl von Fotos und Texten aus dem Buch wurden in der Präsentation weitere Einblicke in das Leben und Vereinsleben im Reuterkiez sichtbar.
Die Gegend um den Reuterkiez in Berlin Neukölln gilt als innerstädtischer Problemkiez. Hohe Arbeitslosigkeit, wenig Grünflächen sowie eine Vielzahl von Menschen unterschiedlichster Herkunft auf engstem Raum kennzeichnen hier das Stadtbild. Für ihr gemeinsames Projekt besuchten Jennerich und Volk zahlreiche Vereine im Reuterkiez. Die Arbeit von Vereinen gibt Menschen Halt, prägt den Charakter einer Nachbarschaft sowie das Gesicht einer Stadt. „Vereine bieten Menschen Heimat“ bemerkt Jennerich im Vorwort des Buches, das als künstlerische Dokumentation der Vereinsrecherche entstanden ist. Insgesamt 19 Vereine werden in dem Buch „e.V. – Vereine im Reuterkiez“ vorgestellt.
Bei diesem Projekt hält der Berliner Fotograf Marc Volk, der sonst durch seine experimentellen Arbeiten bekannt ist, die Faszination und Schönheit der kleinen Momente im Vereins- und Stadtleben fest. In den ausschnitthaften Momentaufnahmen treffen Alltägliches und Besonderes aufeinander. Christian Jennerich verfasste an Hand von Kurzinterviews Vereinsprofile, die sich u.a. mit der Frage „Was ist Heimat?“ beschäftigen.

Im April folgte der Berliner Maler Thomas Gentner (* 1963) mit seiner ersten Einzelausstellung in der EMERSON Gallery Berlin, die er in Anlehnung an das letzte Album des 1994 verstorbenen Jazz Gitarristen Sonny Sharrock „Ask the Ages“ nannte. Der Titel verwies auch auf die enge Verknüpfung von Malerei und Musik im Werk des Künstlers, im Sinne einer Stimulanz beim Malprozess. Umgekehrt spiegelte sich auch etwas von der aufwühlenden Wildheit der Musik in den Bildern wider.
Die in der Ausstellung gezeigten überwiegend aktuellen Arbeiten Gentners waren gekennzeichnet durch einen extrem reduzierten, expressiven Stil. Eine Serie roter und schwarzer Zeichnungen auf Papier in Mischtechnik variierte bestimmte Formen und Linienarrangements mit wiederkehrenden figurativen Fragmenten, zumeist Köpfen.

Im Gegensatz zu den älteren großfomatigen Leinwandbildern Thomas Gentners, die sich durch eine knallbunte Farbpalette sowie eine pastose und mehrschichtige Technik auszeichnen, sind die neuen Bilder großflächiger, zum Teil unifarben und in dünnerem Farbauftrag gefertigt.
Als Edition XVI fertigte Thomas Gentner ein Wandobjekt (Stahlschnitt) an.

Es folgte das INTERMEZZO VII mit neuen Arbeiten des jungen polnischen Konzeptkünstlers Pawel Polus(* 1979 in Polen) unter dem Namen „Sphären“.
Das Konzept für seine Ausstellung erläuterte der Künstler wie folgt: „Bei den Arbeiten, die in der Emerson Galerie präsentiert werden, habe ich mich kosmologischen Problemen gewidmet und mich auf das Verhältnis: Mensch – Welt – Weltall konzentriert. Die Menge an Wissen, über das Astronomen und Kosmologen verfügen, interessiert mich weniger; meine Aufmerksamkeit schenke ich vielmehr der menschlichen Reaktion auf das Stichwort Weltall, in einem Moment, wo dieses Wissen gering ist. Andererseits interessiert mich die natürliche, menschliche Neigung, die Welt und das Weltall zu ordnen, indem man den Untersuchungsgegenstand „vermenschlicht“ (das Verstehen der Dinge und der allgemeinen Dinge als Bedingung unseres Daseins und des Denkens); auch das, was fremd und nur allgemein bekannt ist. Ausgangspunkt für die Realisation ist eine einfache Zeichnung der Sphären, die ich einer breiteren Analyse unterworfen habe. Ich halte daran fest, daß das Thema – trotz seiner Weite – mit einfachsten Mitteln gefaßt werden kann, lesbar bleibt und die Vorstellungskraft anregt.“
Der Begriff „Sphäre“ stammt aus dem Griechischen σφαίρα, sphaira und bedeutet- die Kugel, der Ball und war im Altertum eine Bezeichnung für das Himmelsgewölbe, das als Kugeloberfläche gedacht war. Der Bezeichnung „Sphären“ lag die geozentrische Vorstellung zugrunde, daß das Himmelsgewölbe aus konzentrischen durchsichtigen (kristallenen) Kugelschalen mit verschiedenem Abstand bestünde, die sich unterschiedlich drehen und an die die Sterne angeheftet seien (Pythagoras). Aristoteles und besonders Ptolemäus bauten die Theorie in der Lehre von der Sphärik weiter aus und versuchten zu erklären, warum Planeten und bestimmte Sterngruppen offenbar eine gemeinsame Eigenbewegung am Himmel haben. Der Begriff wurde dann in der Mathematik sowie in der Astronomie und den Geowissenschaften als Himmelskugel weiter verwendet.
Diese abstrakte Form paßte besonders gut zu Polus komplexen Gedankengängen, wobei die Überlegungen des Künstlers auch zu ganz praktischen Schlüssen führen können. In einer Zeit, in der das Verhältnis des Menschen zur Natur und der ihn umgebenden physischen Welt zunehmend für Unsicherheit sorgt, sucht Paweł Polus nach Antworten durch einen metaphysischen Ansatz, der so alt und beunruhigend ist, wie die griechische Philosophie. Die Zeiten haben sich geändert, aber die grundlegende Frage bleibt die gleiche: Welche Stellung und Bedeutung besitzt die Menschheit im Universum?

Als nächstes präsentierte die EMERSON Gallery Berlin die Ausstellung „Sichtbare Stille“ von Christina Kubisch (* 1948). Seit Beginn der Industrialisierung, und damit auch der aufstrebenden Romantik, taucht das Wort Stille immer häufiger in der westlichen Literatur auf. Mit dem Begriff Stille wird das Hören thematisiert, auf weit entfernte Klänge hingewiesen oder das innere Lauschen beschrieben. „Sichtbare Stille“ ist der Titel der ersten Einzelausstellung von Christina Kubisch in der EMERSON Gallery Berlin. Die renommierte Klang-, Licht-, und Performancekünstlerin präsentierte neue akustische und interaktive Installationen sowie Grafiken, in denen das Phänomen „Stille“ auf unterschiedlichste Weise ausgelotet wird. Die mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnete Künstlerin absolvierte nach ihrem Kunststudium in Stuttgart (1967-68) ein Musikstudium in Hamburg und Graz (1969-72) und studierte danach Komposition und Elektronische Musik in Mailand (1974-76). Christina Kubisch ist seit 1994 Professorin für „Plastik und audiovisuelle Kunst“ an der HBK Saar in Saarbrücken.
Im Eingangsbereich der Galerie zeigt die Künstlerin die zehnkanalige elektromagnetische Klanginstallation „Zehn Tore“, die für die EMERSON Gallery Berlinentworfen wurde. Sie besteht aus schwarzen elektrischen Kabeln, die deckenhohe Tore bilden, durch die man hindurchgehen kann. Die filigran wirkenden Strukturen aus technischem Alltagsmaterial sind nicht nur ein visuelles Element, sondern auch akustisch wahrnehmbar. Mit einem speziellen, von Christina Kubisch bereits Ende der 70er Jahre entwickelten, elektromagnetischen Kopfhörer (Induktionskopfhörer) kann man beim Gehen zwischen und durch die Tore verschiedene Klänge empfangen, die sich je nach Bewegungsart und Wegeführung immer wieder anders überlagern. Der Hörer wird zum Mixer/Composer einer individuellen Klangkomposition.
Bei den zehn Klangspuren handelt es sich um Aufnahmen elektromagnetischer Felder, die normalerweise nicht hörbar sind, mittels spezieller Induktionstechnik aber in Klang umgesetzt werden können. Die Tonaufnahmen wurden in europäischen Großstädten, den USA und China gemacht. Die Bandbreite dieser uns weltweit in urbanen Zentren allgegenwärtig umgebenden magnetischen Felder ist höchst komplex.
Die schwarzweißen Monoprints „Electrical Drawings“ (Tintenstrahldruck auf Büttenpapier) zeigen Visualisierungen einzelner elektromagnetischer Klangfelder, die mittels eines Computerprogramms als „sound waves“ (Klangwellen) sichtbar gemacht werden. Im Gegensatz zu Instrumental- oder Naturklängen haben sie eine technoide und sich wiederholende Struktur.

Im Juli wurden im INTERMEZZO VIII„Fotographien“ gezeigt mit neuen Arbeiten des jungen kanadischen Fotografen John Haney (* 1978). Eine Möglichkeit, mit Mißständen umzugehen, besteht für John Haney darin, diese zumeist in Schwarz-Weiß zu fotografieren. Als er in einem Waldgrundstück in der Nähe von New Brunswick einen geradezu „obszönen“ Kahlschlag entdeckte, entschloß er sich, diesen mit seiner 1928er Eastman Kodak 11″ x 14″ Kamera zu erkunden. Es entstand die bei uns ausgestellte Fotoserie „clearcut“. Haney bemerkt dazu: „My first intention was simple: to document the devastation as blatantly as possible. I wanted to show something sublime – in the original sense of the word – displaying something both gorgeous and terrifying.“ („Meine erste Absicht war einfach: die Verwüstung so aufschreiend wie möglich zu dokumentieren. Ich wollte etwas Erhabenes zeigen – sowohl prachtvoll als auch erschreckend.“) Nach drei Monaten kehrte Haney an den Ort zurück. Die kleinen, fragilen Veränderungen machten ihm deutlich, daß seine Fotos kein Totengedicht für den Wald, sondern eher für die Menschheit sind. Die eindringlichen Bilder spiegeln gleichermaßen diese Empfindungen sowie die Prozesse von Zerstörung und langsamer Erneuerung. Als Rahmenprogramm zur Ausstellung fand eine Lesung mit Amanda Jernigan – Neue Poesie aus Kanada, in engl. Sprache, am 16. Juli 2006 statt, sowie eine Aufführung des Theaterensembles DaPoPo – Neues Theater aus Kanada, am 22. Juli 2006.

Ebenfalls 2006 fand das erste SOMMERFEST DER INTERNATIONALEN KUNST zum Länderschwerpunkt Kanada mit den Ausstellungen der kanadischen Künstler Cathy Busby (* 1958) „The Northend“ und Garry Neill Kennedy (* 1935) „Two New Wars“.

Dann folgte die Einzelausstellung „History and Tales“ des Berliner Malers Frank Tornow, der sich wieder einmal als virtuoser Könner der Malerei bewies. In musealer Manier wurden seine neuen Bilder auf weinroten Galeriewänden präsentiert. Die Bezüge insbesondere zur europäischen Malerei des 17. Jahrhunderts sind in den Gemälden unübersehbar. Frank Tornow greift christliche, antik-mythologische und weltliche Stoffe auf und übersetzt sie in seine eigenwillige, kraftvolle Bildsprache.
Eine Folge kleinformatiger, kreisrunder Landschaftsbilder mit eingefügten Wörtern besitzt seriellen Charakter. Diese rätselhaften Darstellungen eröffnen dem Betrachter ein weites Assoziationsfeld, das sich aus der Kombination von Bild und Begriff speist. So trägt beispielsweise eine ländlich-idyllische Allee den Schriftzug „Flucht“ oder ein steil ansteigender Gebirgspfad zum fernen Gipfel wird mit dem Wort „Führung“ untertitelt. Frank Tornow manipuliert auf diese Weise den Betrachter und verändert seine Wahrnehmung der Landschaftsbilder. Bei der Vernissage hielt Klaus Reimus eine Rede.

Zum Jahresabschluss präsentierte die EMERSON Gallery Berlin die Berliner Künstlerin Susanne Wehr(* 1960). Im Zentrum der Einzelausstellung „Alles Liebe“ stand ein Zyklus großformatiger Digitalzeichnungen, die als Fotos belichtet wurden.
Ausgangspunkt für die Künstlerin bilden anonyme, private Fotografien. Zur Verwendung solcher Fundstücke erläutert die Künstlerin: „Was mich an den Fotografien interessiert ist, dass diese Fotos ihre Identität und Individualität verloren haben. Sie sind in ein Meer von Fotografien hineingespült worden, haben den – sie zu ihrer Existenz berechtigenden – Menschen verloren und sind zum Allgemeingut geworden. Sie verkörpern die Brüchigkeit und Fragilität von Identität und Existenz und bilden außerdem ein riesiges Reservoir an Figuren, Begebenheiten, Orten und Sichtweisen, mit denen wir uns identifizieren können. Die Fotos und deren Inhalte sind sozusagen „Kollektivbesitz“ unserer Gesellschaft geworden und spiegeln diese wider.“ 
In einem konzentrierten, handwerklichen Arbeitsprozess verändert Susanne Wehr das ursprüngliche Motiv oder einen Ausschnitt daraus mit Hilfe von Illustrationsprogrammen am Computer. Dieses Verfahren beschreibt die Künstlerin als zeichnerische/malerische „Dekonstruktion“ auf die eine erneute „Rekonstruktion“ folgt.
Dargestellt werden Situationen, die nicht eindeutig definiert sind. Es bleibt also zunächst für den Betrachter offen, was in dem jeweiligen Bild passiert. Dabei erschließen sich persönliche Bedeutungsräume, Landschaften, die von den „Gletschern der Liebe“ zurückgelassen wurden. Die Übergangslinie zwischen individueller und kollektiver Bildwelt verläuft oft unmerklich innerhalb einzelner Bilder und verweist zurück auf den zweigesichtigen d.h. privat-öffentlichen Charakter des Ausgangsmaterials.
Der rätselhafte Charakter der Arbeiten beschränkt sich nicht nur auf die Ebene der Motive, er setzt sich im Umgang der Künstlerin mit den formalen Gestaltungsmitteln fort. Die Irritation des Betrachters ist gewollt und wird zum Anstoß für die Auseinandersetzung mit der jeweiligen Darstellung.
Bewusst setzt die Künstlerin das Medium der Fotografie ein, um unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit und vor allem deren Darstellbarkeit generell zu hinterfragen. Die Spannung der Bilder von Susanne Wehr speist sich gerade aus diesem Paradoxum.